Aufarbeitung

Frühe Wahrnehmungen von Heimschicksalen gibt es in den Tätigkeitsberichten der Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages. Vor allem ist es jedoch eine Initiativgruppe von ehemaligen Insassen des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau, die ein größeres mediales Interesse für DDR-Heimschicksale erwirken.

Über das Bürgerkomitee des Landes Thüringen e. V. und die Beratungsinitiative des Freistaats für Betroffene politischer Verfolgung in SBZ und DDR gibt es bereits sehr früh das Interesse an der Tätigkeit der DDR-Jugendhilfe und der in einzelnen Heimen gewaltförmigen Entgleisung der Erziehung bzw. Umerziehung. Das Bürgerkomitee veröffentlichte beispielsweise 1998 in seiner Studienreihe die Erinnerungen eines ehemaligen Heimkindes „Ich kann nicht mehr vergessen“ (2 Bände).

Seit 2003 legt die Arbeit in der Beratungsstelle SED-Unrecht beim Caritas-Verband in Saalfeld besonderes Augenmerk auf Schicksale, die in Jugendwerkhöfen spielen, und begleitet bei den entsprechenden Rehabilitierungsverfahren. Nach dem „Schneeballprinzip“ wird die Beratungsstelle bereits vor 2009 sporadisch aus dem gesamten Bundesgebiet angefragt.

2009 ist dann ein entscheidendes Jahr: Im Mai fasst das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einen Beschluss, in dem es der Verfassungsbeschwerde von Ralf Weber, einem ehemaligen Heimkind, Recht gab, dessen strafrechtliche Rehabilitierung vom Oberlandesgericht Naumburg zuvor abgelehnt worden war. Das Bundesverfassungsgericht verwies das Verfahren an das Oberlandesgericht von Sachsen-Anhalt zurück. Schlagzeilen in den Printmedien wie „DDR-Heimkinder können jetzt entschädigt werden“ waren zwar in der Sache unrichtig, machten aber offenbar eine Schwelle niedrig genug, die vorher von den meisten Betroffenen als unüberschreitbar hingenommen worden war. Sprunghaft schwillt der Gesprächsbedarf an. In den Gesprächen ist nach ein paar Sätzen kaum noch die Rede von Entschädigung, sondern das Sprechen überhaupt, das endlich Aussprechen und das Gehörtwerden spielen die Hauptrolle.

Anfang Juni 2009 kommt es noch während eines Arbeitsgesprächs im Thüringer Ministerium für Soziales, Familie und Gesundheit, in dem ein erstes Fazit zu alarmierenden von Betroffenen mitgeteilten Zuständen in DDR-Kinderheimen vorgestellt wurden, faktisch zur Gründung der damals noch bundesweit arbeitenden Beratungsstelle für ehemalige DDR-Heimkinder in Suhl. Es gibt immensen Gesprächsbedarf. Sehr häufig werden die Gespräche in geschützter Atmosphäre, in der Regel in aufsuchender Beratung zu Hause gewünscht.

Die Thüringer Erfahrungen führen in der Folge zur Einbindung in Bundes- und Landesgremien. Am 24. September 2010 wird in Erfurt der „Arbeitskreis Heimerziehung Thüringen“ als erster landeseigener Runder Tisch – unter Vermeidung dieses Namens – in einem ostdeutschen Bundesland gegründet. Es wird der einzige bleiben. Von Beginn an verfolgt er in zwei Arbeitsgruppen sowohl die Richtungen Aufarbeitung als auch Prävention/Intervention im Umgang mit gegenwärtiger Heimlandschaft. Mit dem Vorsitz der Arbeitsgruppe Aufarbeitung wird Ruth Ebbinghaus aus Würzburg betraut.

Am 17. November 2010 findet im Thüringer Landtag und in Verantwortung der damaligen Thüringer Landesbeauftragten für die Stasiunterlagen ein erster Kongress zum Thema Heimerziehung in der DDR statt. Es ergeben sich erste Kontakte zu u. a. mit Silke Birgitta Gahleitner, die in ihrem Vortrag die Einrichtung von Anlaufstellen für ehemalige Heimkinder fordert, und Christian Sachse, der bereits aus der Sichtung und Erforschung von Archivbeständen vieles von dem, was die Erzählung der Heimkinder selbst ausmachte, verifizieren konnte.

Am 23. März 2011 lädt der Berliner Senat zu einem Workshop zur Gründung einer Anlaufstelle ein, bei dem Erfahrungen aus Thüringen genutzt werden sollen; am 12. April folgt dann ein weiteres Gespräch in Berlin zur Gründung einer Anlaufstelle.

Am 6. April 2011 lädt die damalige Unabhängige Beauftragte des Bundes zur Aufklärung des sexuellen Kindesmissbrauchs, Christine Bergmann, zu einem Gespräch ein. Für den darauffolgenden Tag ist sie mit einigen Betroffenen verabredet, die ihr aus eigenem Erleben über sexuellen Missbrauch berichten werden. Ihr nahezu veröffentlichungsreifer Abschlussbericht erhält ein Zusatzkapitel zur Heimerziehung in der DDR. In diesem ist erstmals davon die Rede, dass, wenn es Hilfen für Heimkinder geben soll, es diese gleichermaßen für Heimkinder in West und Ost geben müsse.

Am 27. Juni 2011 wägt der Familienausschuss des Bundestages Argumente für Fonds bzw. gesetzliche Reglungen ab. Am 7. Juli 2011 beschließt der Deutsche Bundestag das Hilfesystem für ehemalige Heimkinder, das annähernd gleichzeitig, auf jeden Fall aber gleichwertig, in West und Ost umgesetzt werden soll.

Der Arbeitskreis Heimerziehung in Thüringen erprobt in einigen Städten ein Modell der Partizipation ehemaliger Heimkinder, nachdem eine Beteiligung Betroffener unter anderem bei den Runden Tischen des Bundestages als gescheitert angesehen worden war. Der Arbeitskreis Heimerziehung in Thüringen hatte entschieden, alle bekannten Betroffenen vor Ort zum Gespräch einzuladen und vor Ort nur ein Verhältnis von etwa 1:1 Betroffene und Arbeitskreis zuzulassen. Dies war vom Ansatz und der Durchführung modellhaft für ein gelingendes Gespräch zwischen Betroffenen und Wissenschaftlern, Politikern.

Am 7. September 2011 wurde dieses, inzwischen durch Brigit Bütow in einer Veröffentlichung als „Thüringer Modell“ eingeführte Verfahren, in der Bund-Länder-Arbeitsgruppe vorgestellt.

Am 24. September 2011 findet die Jahrestagung der Historischen Kommission Thüringen in Kloster Veßra statt. Professor Ulrich Großmann, zu dieser Zeit Generaldirektor des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg, stellt auf dieser Tagung das Konzept für das in Planung befindliche Deutsche Burgenzentrum vor, zu dem die Veste Heldburg entwickelt werden soll. Der Vortrag der Beratungsstelle in einem Panel beschränkte sich deshalb auf Schilderungen von Misshandlungen und Missbrauch auf der Veste Heldburg. Im Nachgang zur Tagung wird der Besuch einer Mitarbeiterin des Germanischen Nationalmuseums in der Beratungsstelle in Aussicht gestellt, um Einbindungen von Heimschicksalen in das Konzept des Deutschen Burgenzentrums auf der Veste Heldburg zu erkunden. Dieser Besuch fand nie statt.

Im Oktober und November finden Telefonkonferenzen und Treffen mit Experten statt, die mit der Abfassung der drei Expertisen zur Heimerziehung in der DDR beauftragt wurden: Am 9. Oktober 2011 mit Friederike Wapler zu ihrer Arbeit, in der sie eine juristische Einschätzung geben soll; am gleichen Tag mit Ruth Ebbinghaus, die zu den psychischen Folgen der Erziehung in DDR-Heimen arbeiten soll, und am 28. Oktober mit Karsten Laudien und Christian Sachse, die das pädagogische Konzept der DDR-Heimerziehung untersuchen sollen. Die drei Expertisen sollen auch anhand der vielen inzwischen vorliegenden Berichte Betroffener versuchen, möglichst den durch den Runden Tisch zur Heimerziehung in der Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren erarbeiteten Wissensvorsprung der wissenschaftlichen Aufarbeitung zu kompensieren.

Einem Treffen der Arbeitsgemeinschaft Betroffenenbeteiligung am 18. November 2011 folgt am 27. und 28. November die erste Zusammenkunft der Betroffenen aus den ostdeutschen Bundesländern. Dieses Gremium gibt sich im Arbeitsprozess den Namen ABH – Arbeitskreis Betroffener der Heimerziehung der DDR. Diesem Gremium gehören übrigens aus Thüringen eine Frau und ein Mann an, die einen Teil ihrer Kindheit auf der Veste Heldburg erlebten. Sie können zudem Erfahrungen aus Vorschulheimen, Jugendwerkhöfen und aus dem Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau einbringen.

Ab 1. Juli 2012 hat die Thüringer Anlauf- und Beratungsstelle für ehemalige DDR-Heimkinder ihren Sitz in Erfurt. Annähernd 5.000 Betroffene, die ihren Wohnsitz in Thüringen haben, werden dort bis zum Stichtag 30. September 2014 Ansprüche an den Fonds Heimerziehung anmelden. Die Anlauf- und Beratungsstelle wird zum Jahresende 2020 geschlossen. Die Arbeit mit ehemaligen Heimkindern geht in das Arbeitsgebiet des Thüringer Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur über.

Von Beginn an leidet der Fonds Heimerziehung in DDR von 1949 bis 1990 unter drei Konstruktionsfehlern:

  1. Die ursprünglich auf fünf Jahre begrenzte Wirkungszeit erweist sich, zumal die Ausschlussfrist für die Anmeldung von Ansprüchen auf dem 30. September 2014 vorgezogen wird, als völlig unzulänglich. Erfahrungen mit dem Rehabilitierungsrecht für DDR-Unrecht (ursprünglich sollten auch die betreffenden SED-Unrechtsbereinigungsgesetze nur fünf Jahre gelten; inzwischen hat der Bundestag nach einer quälenden Serie von Fristverlängerungen die völlige Entfristung beschlossen) legen die Notwendigkeit einer erheblichen zeitlichen Ausdehnung zwingend nahe.

  2. Die Anlauf- und Beratungsstellen sind personell in keiner Weise in der Lage, den Gesprächsbedarf ihrer Klientel in Quantität und Qualität zu entsprechen.

  3. Zu den Leistungen aus dem Fonds Heimerziehung haben alle Menschen keinen Zugang, die in Einrichtungen des DDR-Gesundheitswesens Unrecht erlebt hatten. Diesem Defizit wird durch den zunächst sogenannten Fonds II Rechnung getragen: zum 1. Januar 2017 errichten Bund, Länder und Kirchen gemeinsam die Stiftung Anerkennung und Hilfe. Die Stiftung bietet ein Hilfesystem für Menschen an, die als Kinder oder Jugendliche in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder in stationären psychiatrischen Einrichtungen untergebracht waren, dort Leid und Unrecht erfahren haben und heute noch an Folgewirkungen leiden. Die entsprechende Anlauf- und Beratungsstelle nimmt im Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie ihre Arbeit auf.

Auch für die Stiftung Anerkennung und Hilfe erweist sich die zeitliche Begrenzung mit einer Ausschlussfrist für die Anmeldung von Ansprüchen als Kardinalfehler.

Bis heute melden sich regelmäßig ehemalige DDR-Heimkinder und Angehörige der von der Stiftung Anerkennung und Hilfe erfassten Opfergruppen, um Zugang zu Hilfesystemen zu erhalten, Aufklärung über ihre Zeit in Heimen und anderen Einrichtungen zu erlangen oder einfach Licht in die eigene Kindheit und Jugend zu bringen. Die seit Beginn 2014 im Aufbau befindliche Selbsthilfestruktur in Thüringen vermag mit drei regional sehr begrenzt tätigen Gesprächskreisen den Bedarf an Gesprächen nicht einmal annähernd zu decken.

2020 erfolgt im Rahmen des Projekts „DENKOrte“ des Thüringer Archivs für Zeitgeschichte (ThürAZ), ­sowohl Orte der Repression als auch widerständigen Verhaltens während der DDR der Vergessenheit entreißen, markieren und erforschen soll, die Aufnahme eines ersten ehemaligen Kinderheims, des Kinder- und Sonderschulheims auf der Veste Heldburg. 2021 folgt im Rahmen des gleichen Projekts als zweites Heim das Durchgangsheim Schmiedefeld.

2020 wird als erster Schritt des Projekts „Virtuelle Gedenkstätte“ die Übersichtskarte damals noch mit 136 erfassten Heimen im heutigen Thüringen auf der Website des Bürgerkomitees des Landes Thüringen e. V. ins Internet gestellt. Viele ehemalige Heimkinder und einige Erzieherinnen haben seitdem Kontakt zum Projekt aufgenommen und ihre Erfahrungen mitgeteilt.